Der Westen, die BRICS Donald Trump und deutsche Medien

Alexander S. Neu

Ende Oktober fand in Kazan/Russland der 16. BRICSplus-Gipfel statt. 36 Staaten aus dem „Nichtwesten“ nahmen an dem Gipfel teil, darunter eine Vielzahl von Staaten, die eine Mitgliedschaft anstreben. In den deutschen Medien wurde erstmals intensiver über den Gipfel in Russland berichtet. Die Berichterstattung war in großen Teilen, wie leider mittlerweile Standard, alles andere als neutral. 

 


Die Äußerungen reichten von übelster Beschimpfung gegenüber dem UN-Generalsekretär über Forderungen seiner Absetzung bis hin zu Überlegungen, Deutschland solle darüber nachdenken, seine Zahlungen an die UNO zu reduzieren, einzustellen oder direkt aus der UNO auszutreten. Bei all dem Schaum vor dem Mund wurde überaus deutlich, welches Verständnis die politisierenden Medien und so mancher deutsche Politiker von der UNO und dem von ihr verkörperten UN-Völkerrecht haben. Die durch und durch moralisierende taz, einst ein wahrlich linkes Blatt, brachte es bereits – zumindest als Kommentar gekennzeichnet – mit der Überschrift und der Unterüberschrift auf den Punkt:

„Guterres diskreditiert die Vereinten Nationen – Der UN-Generalsekretär hat sich von Putin einladen lassen und mit ihm friedlich vor Kameras posiert. Damit hat er den Westen verraten.“ Und weiter im Text: „In Kasan wird dem Westen demonstrativ die Tür gewiesen. Und der einzige anwesende Vertreter des Westens lässt sich das gefallen.“

Also, halten wir einmal fest: António Guterres ist als UNO-Generalsekretär nicht ein Vertreter der Weltorganisation UNO, also der gesamten in der UNO organisierten Staatenwelt, sondern nur ein „Vertreter des Westens“. Mit der Teilnahme am BRICS-Gipfel hat Guterres als „Vertreter des Westens“ diesen seinen „Westen verraten“ und zugleich die Weltorganisation, die dann wohl Eigentum des Westens ist, diskreditiert, mithin ihren Ruf geschädigt, ihrem Ansehen einen Schaden zugefügt. So viel zum Verständnis von internationaler Politik und Völkerrecht seitens der taz.

Ob Zufall oder nicht: Die Wahrnehmung der UNO und ihrer Unter- und Sonderorganisationen als „Eigentum“ des Westens seitens der taz – und wohl nicht nur von ihr, sondern auch tatsächlich von vielen westlichen Mainstreammedien, Teilen der politischen Klasse sowie sogenannten westlichen NGOs, wenn man sich deren instrumentelles Verhältnis zum Völkerrecht und der UNO anschaut – wird auch vom Nichtwesten geteilt: Die UNO wie auch ihre Unter- und Sonderorganisationen und andere internationale Organisationen gehören dem Westen. Und genau diese Wahrnehmung, diese gemachten Erfahrungen des Nichtwestens stellen das wesentliche Gründungsmotiv für das BRICSplus-Bündnis und weitere Bündnisse wie die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) dar.

BRICSplus – Gründungsmotiv?

Die Staaten der nichtwestlichen Welt akzeptieren immer weniger die seit Jahrhunderten währende westzentrierte Weltordnung und die ihren Interessen primär dienenden Institutionen und Strukturen in den internationalen Beziehungen. Der Widerstand der „anderen“ Länder wird immer offensichtlicher und selbstbewusster. Schon lange ist eine umfassende Reform der Vereinten Nationen und einiger Sonderorganisationen wie der Weltbank und des IWF, die – was auch sonst – ihren Sitz in Washington D.C./USA haben, überfällig, um den neuen Machtverhältnissen Rechnung zu tragen. Allein mit Blick auf die Zusammensetzung des UNO-Sicherheitsrates und seiner Kompetenzen wie auch im Binnenverhältnis zwischen UNO-Generalversammlung und dem UNO-Sicherheitsrat gibt es eine Menge Reformpotenzial, um die veränderten globalen Machtverhältnisse widerzuspiegeln. Dass die Reformen nicht stattfinden, liegt allerdings nicht allein an den drei Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern des Westens (USA, Frankreich und Großbritannien). Auch die beiden Sicherheitsratsmitglieder des Nichtwestens (China und Russland) wollen ihre Privilegien trotz aller vorgetragener Solidarität mit dem Globalen Süden nicht angetastet sehen.

Die Verhinderungsmotive zu Reformen sind so vielfältig wie die jeweiligen Interessen der Ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Angesichts dieses Reformstillstandes aufgrund von interessengeleiteten Blockaden sowie des fleißig betriebenen Rechtsnihilismus nahezu aller im Sicherheitsrat vertretenen Ständigen Mitglieder scheinen die Weltorganisation sowie auch ihre Sonderorganisationen zu degenerieren – zumindest jedoch einen deutlichen Relevanzverlust zu erleiden. Und da für den globalen Nichtwesten ein „weiter so“ der auf die westliche Dominanz zugeschnittenen globalen Institutionen und Strukturen nicht länger hinnehmbar ist, werden Alternativen gesucht – eben auch alternative Institutionen und Strukturen: Neue, regionale Regierungsorganisationen ohne westliche Repräsentation werden gebildet. Und diese intra- und interregionalen Organisationen und Bündnisse erheben den Anspruch, anstelle der westlich dominierten, global wirkenden Regierungsorganisationen internationale Politik sowohl regional als auch interregional zu gestalten. Die logische Konsequenz ist die Herausbildung einer institutionalisierten Teilung der Welt. Intra- und interregionale Regierungsorganisationen ersetzen sukzessive globale Organisationen und ihre Unter- und Sonderorganisationen.

BRICSplus was? – Zusammensetzung und Kennziffern

Die BRICSplus-Gruppierung ist zwar keine formale Organisation wie die SCO, verfügt also nicht über eigene feste Organisationsstrukturen und einen entsprechenden institutionellen Standort. Ihre Bedeutung auch als „nur“ kooperierende Staatengruppe ist dennoch nicht zu unterschätzen. Die wechselnd in den Hauptstädten der Teilnehmerstaaten stattfindenden jährlichen Gipfeltreffen sind ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Regierungen diesem Staatenbündnis eine hohe politische Relevanz beimessen. Das BRICS-Bündnis wurde 2006 gegründet. Die Gründungsmitglieder sind Brasilien (B), Russland (R), Indien (I) und China (C), also BRIC. 2010 wurde das Bündnis um Südafrika (S) und somit auf BRICS erweitert, womit neben dem dominant vertretenen asiatischen Flügel (China, Russland und Indien) und dem lateinamerikanischen Flügel (Brasilien) auch der afrikanische Kontinent im Bündnis vertreten ist, sodass von einem tatsächlichen interregionalen Bündnis gesprochen werden kann.

Es handelt sich bei diesen Staaten um sogenannte aufstrebende Schwellen- und Industrieländer. Auf dem BRICS-Gipfel 2023 in Südafrika hatten 23 Staaten einen Aufnahmeantrag gestellt. Auf dem Gipfel wurden aber nur sechs Staaten zum Beitritt Anfang 2024 eingeladen, um eine übereilte Erweiterung auf Kosten der Vertiefung zu verhindern. Die Einladung erhielten Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Tatsächlich beigetreten sind indes nur vier Staaten. Argentinien und Saudi-Arabien haben aus diversen Gründen den Beitritt nicht weiterverfolgt. Der Name BRICS wurde nicht um weitere Buchstaben der neuen Mitglieder erweitert, da dies unpraktisch sei, sondern lediglich mit einem Plus ergänzt – daher BRICSplus bzw. BRICS+.

Die BRICSplus-Staaten repräsentieren laut Statista rund 45 Prozent der Weltbevölkerung (G7-Staaten knapp zehn Prozent Weltbevölkerung) und etwas über 35 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes (G7 rund 30 Prozent des globalen BIP).

Bereits 2014 beschlossen die BRICS-Staaten, als Antwort auf die schleppenden Reformen des IWF hinsichtlich der von den Schwellenländern geforderten Einflussmöglichkeiten eine alternative „Entwicklungsbank“ und einen „Währungsfonds“ mit Sitz in China zu gründen.

Festzuhalten bleibt, dass regionale Regierungsorganisationen, ob nun intra- und interregional agierend, die politischen Entscheidungen ohne die eigentlich zumindest für globale Sicherheitsherausforderungen zuständige UNO zunehmend sich selbst überantworten. So lange keine militärischen Maßnahmen ergriffen werden, ist dies sogar von der UNO-Charta (Kapitel 8, Artikel 52) gedeckt. Aber auch militärische Maßnahmen werden seit 1999 ohne UNO-Mandat selbstherrlich praktiziert.

Exkurs

Prägende Beispiele für interregional oder gar global agierende regionale Regierungsorganisationen sind die EU und die NATO, die sich selbstherrlich – also ohne jegliche Legitimation durch den Rest der Welt – auch für die globale Sicherheit verantwortlich zeichnen. Dabei erklären sie sich faktisch zu einer kleinen, zu einer Ersatz-UNO, nämlich als Systeme kollektiver Sicherheit, die die paralysierte UNO eben akut ersetzen müssten – aber selbstverständlich nur, wenn es ihren Interessen entspricht, denn man muss ja mit den begrenzten finanziellen und militärischen Ressourcen haushalten.

So hat die NATO 1999 mit ihrem rechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien die UNO zum ohnmächtigen Zaungast degradiert. Der Irak-Krieg der „Koalition der Willigen“ unter US-Führung hat diese Marginalisierung der UNO zementiert. Auch die regionale Regierungsorganisation EU pflegt ein eigentümliches Selbstverständnis, über den eigenen Mitgliederraum hinaus wirken zu wollen (beispielsweise das Projekt der europäischen Nachbarschaftspolitik, das trotz euphemistischer Sprache eine klare Machtpolitik darstellt). Ich erinnere mich noch sehr gut an eine wunderschöne euphemistische Aussage zur Aufhübschung knallharter Machtprojektionsambitionen seitens eines Vertreters des Auswärtigen Amtes im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, der ohne jegliche Selbstzweifel sinngemäß folgende Aussage tätigte: Der südliche Mittelmeerraum „verdiene nun mehr Aufmerksamkeit“ seitens der EU. Dass es sich dabei nicht um humanitäre Hilfsprogramme handelte, ergab sich allein schon aus dem thematischen Kontext.

Und auch Russland nimmt dieses westliche Selbstverständnis, internationales Recht nach Gutdünken instrumentalisieren zu können, nunmehr für sich in Anspruch: Die völkerrechtswidrigen diplomatische Anerkennungen der abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien im Jahr 2008 sowie jüngst auch mit Blick auf die gewaltsame Annexion ostukrainischer Regionen: Das vom Westen einseitig „weiterentwickelte Völkerrecht“, bei dem die tragenden Säulen einer stabilen Weltordnung, nämlich die uneingeschränkte Souveränität und territoriale Integrität von Staaten, nach westlichem Ermessen gegenüber nichtwestlichen Staaten buchstäblich geschreddert wurden, hat Früchte getragen – allerdings andere Früchte, als man im Westen erwartet hatte. Das damals vom Westen gefeierte neue Primat des externen Selbstbestimmungsrechts auf Kosten der territorialen Integrität und Souveränität Jugoslawiens schlägt nun wie ein Bumerang brutal zurück: Ukraine und Georgien. Selbstverständlich bestreiten die „strategischen Großdenker“ im Westen – und auch nur sie – einen völkerrechtlichen Zusammenhang zwischen dem Schicksal Jugoslawiens und den Schicksalen Georgiens und der Ukraine hinsichtlich der Begründungen für die erzwungene Abtretung von Teilen ihrer Staatsgebiete. Im globalen Nichtwesten ist die Perzeption eine andere.

Exkurs Ende

BRICSplus – „gegen den Westen“ oder nur „ohne den Westen“?

In den westlichen Politik- und Redaktionsstuben wird gemutmaßt, ja sogar behauptet, BRICSplus richte sich gegen den Westen. Diese Behauptungen lassen sich nicht seriös belegen, weder durch die Aussagen der BRICSplus-Teilnehmer noch durch die verabschiedeten Kommuniqués. Eine „gegen den Westen“ gerichtete Sichtweise lässt sich nur dann herbeihalluzinieren, wenn man die Emanzipation der BRICSplus-Staaten von dem Anspruch auf westliche und von der Praxis der westlichen Globaldominanz als „gegen den Westen gerichtet“ interpretiert; also Bündnisse und multilaterale Treffen ohne den Westen, die Abkopplung vom US-Dollar als Weltleitwährung, die Nichtbeteiligung an unilateralen westlichen Sanktionen gegen Drittstaaten sowie das Ignorieren oder das Umgehen von Sekundärsanktionen, militärische Zusammenarbeit nichtwestlicher Staaten etc.

Will man der Öffentlichkeit in Deutschland und im Westen allen Ernstes das in der UNO-Charta verbriefte Recht auf freie und souveräne Entwicklung der Staaten dieser Welt als „gegen den Westen gerichtet“ verkaufen? Wenn diese abstruse Sichtweise tatsächlich vorherrscht, ja politikbestimmend in Berlin, Paris, Brüssel und Washington sein sollte, dann wird der bereits konfliktbeladende Weg zu einer ohnehin unvermeidlichen multipolaren Weltordnung möglicherweise noch viel Blut und Eisen zeitigen. Es wird höchste Zeit, und dies ganz besonders nach dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA, die geopolitischen und geoökonomischen Doktrinen und Prämissen in Deutschland und der EU einer kritischen Revision zu unterziehen.

Neuer und alter US-Präsident Donald Trump – Auswirkungen für Europa

Der Westen dominiert die Welt nicht mehr in der altbekannten Absolutheit der 1990er- und 2000er-Jahre – weder ökonomisch noch militärisch noch demographisch. Und diese Machtfaktoren relativieren sich jährlich weiter zu Ungunsten des Westens, Europas und Deutschlands. Eine kluge Neuausrichtung unser Außen-, Außenwirtschafts-, Sicherheits- und Geopolitik sowie Geoökonomie ist nun vordringlich. Das heißt, strategische Entscheidungen auf der Grundlage realpolitischer Sichtweisen, mithin befreit von Wertepolitik zu treffen. Es ist aber wohl illusorisch, dass diese Einsicht in den nächsten Monaten reifen wird. Das Einzige, was den Möchtegernexperten so einfällt, ist der einfältige Gedanke der Aufrüstung. Ansonsten wird sich das politische Berlin in den nächsten Monaten viel mehr mit dem Thema Neuwahlen und Wahlkampf beschäftigen als mit den wirklichen Herausforderungen nationaler und internationaler Krisen.

Und auch im Rest Europas wird sich nicht viel bewegen, da die europäischen Eliten wie das Kaninchen gelähmt auf die Schlange, also den US-Präsidenten Donald Trump schauen werden. Währenddessen wird das Machtpotenzial der transatlantischen Welt weiter relativiert. Wenn auch etwas verringert, vermögen die USA ihr Machtpotenzial auf einem Level zu halten, der sie weiter zur globalen Großmacht, vielleicht auch zur stärksten Großmacht, indessen nicht mehr zur Supermacht befähigt. Europa, die EU und Deutschland schaffen dies aber nicht – aufgrund realpolitischer und strategischer Unfähigkeiten. Allein die Tatsache, dass die EU es nicht auf die Reihe bekommt, mit realpolitischer Analyse – also ohne Wunschdenken und Siegeshoffnungen – auch nur einen Waffenstillstand, geschweige denn eine Friedenslösung im ukrainisch-russischen Krieg zu befördern, ist ein wichtiges Indiz für das abnehmende Machtpotenzial der EU.

Die selbst verschuldete Nichtsouveränität Europas, der EU und Deutschlands wird dazu führen, dass der neue US-Präsident D. Trump vermutlich auf Realpolitik basierende Vorschläge für einen Waffenstillstand und wohlmöglich eine nachthaltige Friedenslösung einbringen wird. Sollten sich die USA und Russland über die Köpfe der Europäer zur Ukraine verständigen, was nicht unwahrscheinlich ist, dann ist Europa, dann ist die EU bis auf die Knochen blamiert. Die EU und Europa müssten mit den Konsequenzen und Lasten dieses US-amerikanisch-russischen Deals nolens volens leben.

Aber auch über die Ukraine hinaus stellt sich die Frage, wie sich der globale Wandlungsprozess unter dem Einfluss des neuen US-Präsidenten darstellen wird. Wird Donald Trump die USA mit überzogenen Machtvorstellungen, möglicherweise sogar unter Nutzung militärischer Mittel, in eine Sackgasse führen? Oder wird er sich im Zweifel sogar ohne oder gar gegen die EU auf eine Verständigungspolitik, mithin politische Deals mit den anderen Großmächten einigen – sprich den veränderten Machtverhältnissen zumindest in angemessenen Maßen entsprechen? Wird also eine Art Neuauflage des europäischen Mächtekonzerts der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das 21. Jahrhundert der Weltpolitik bestimmen – im Zweifel auch ohne Europa? Das Spektrum der möglichen Entwicklungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist breit.

Zumindest hat Donald Trump in der Wahlnacht, als sein Sieg weitgehend sicher galt, vor seinen Anhängern eine für den Rest der Welt sehr wichtige Botschaft geäußert: „Ich werde keine Kriege anfangen, ich werde Kriege beenden.“ Der Lackmustest steht aus. Der Nichtwesten schaut sicherlich gespannt auf die diplomatischen Initiativen der neuen US-Administration.

Original auf: Der Westen, die BRICS, Donald Trump und das Elend der deutschen Berichterstattung