Entlassungen bei VW, der Bruch in der Ampel und die ungeklärte Finanzierung der Zeitenwende
Dass eine Woche, in der erst Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird und dann der Bundeskanzler den Finanzminister an die frische Luft setzt, als ereignisreich bezeichnet werden kann, dem dürfte wohl niemand widersprechen. Derartig politisch ereignisreiche Wochen aber sind ein deutlicher Hinweis auf eine komplexe gesellschaftliche Krisensituation. Innen- und außenpolitische Entwicklungen – das zeigt sich dieser Tage – greifen ineinander und zementieren die politische Krise der Bundesrepublik. Diese hat nicht zuletzt ihr Fundament in der schleichenden Deindustrialisierung des Landes.
Ampelfrust bricht sich Bahn
Als Olaf Scholz am Dienstagabend die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner verkündete, brach sich ein politischer Frust Bahn, der sich lange angekündigt hatte. Er kann mit zwei Sätzen zusammengefasst werden: Scholz wollte die Zeitenwende über Lockerungen bei der Schuldenbremse finanzieren. Lindner lehnte ab und forderte stattdessen Einschnitte beim Sozialstaat.
Klar ist: Der Ampel-Frust hat seinen Ursprung im Charakter des Koalitionsbündnisses. Mit Regierungsbeginn wurde der gesellschaftliche Konflikt zwischen Kapital und Arbeit als Kompromiss in das Regierungshandeln eingeschlossen. Je stärker sich die Krise zuspitzte, je stärker sich dadurch die Verteilungsspielräume verengten und je stärker von der Ampel die Bereitschaft herausgefordert wurde, hohe Vermögen zu besteuern, um politisch handlungsfähig zu sein, desto schwieriger wurde es, diese Widersprüche auszubalancieren. Es ist wichtig zu verstehen: Der monatelange Streit der Ampel lag nicht an der Streitlust der Koalitionäre und ihrer Unfähigkeit zum Kompromiss, sondern in der Unversöhnlichkeit bestehender Klassenwidersprüche, die der Koalitionsvertrag versuchte einzuhegen. Das Scheitern der Ampel ist daher auch die Folge ihrer inneren Widersprüche.
Nicht zufällig also entzündete sich dieses Scheitern an der Frage, wie die umfassenden Rüstungsausgaben der Zeitenwende finanziert werden sollen. Denn während die FDP die Unterstützung der Ukraine zulasten des Sozialstaates organisieren wollte, argumentieren Sozialdemokraten und Grüne, Militärisches und Soziales würden nicht gegeneinander stehen, vielmehr sei beides miteinander vereinbar. Bei der Finanzierung der Zeitenwende ging es also nicht mehr um das ob, sondern nur noch um das wie. Dabei zeigt gerade die auf Eis gelegte Kindergrundsicherung, dass SPD und Grüne ebenso wie Union und FDP am Ende bei der Strategie des Sozialabbaus ankommen. Denn wer die Schuldenbremse lockern möchte, um noch mehr Waffen in die Ukraine zu liefern, während die öffentliche Infrastruktur weiter zerfällt, der wird im Sozialbereich sparen müssen, um diese Schulden zu begleichen.
Auswirkungen der US-Wahl auf die Zeitenwende
Es ist wichtig zu verstehen: Die Wahl von Trump und der Zusammenbruch der Ampel ereigneten sich nicht zufällig in ein und derselben Woche. Deutschland ist mehr denn je auf eine belastbare Beziehung zu den USA angewiesen. Trump aber steht für Unberechenbarkeit und könnte sich nun ausgerechnet aus dem Krieg zurückziehen, der es der Bundesregierung erlaubt, die Weichen für einen neue militärische Führungsrolle zu stellen. Das stärkt bei der Bundesregierung die Orientierung auf mehr Eigenständigkeit und stellt zwingend die Frage nach größeren finanziellen Spielräumen. „Für uns ist klar: Wir Europäerinnen und Europäer werden jetzt noch mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen“, hieß es passenderweise in einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zum Regierungswechsel in den USA.
Dieses neue deutsche Führungsstreben steht in engem Zusammenhang mit den Niedergangstendenzen des Industriestandortes Deutschland und den damit verbundenen Abstiegsängsten der deutschen Führungseliten. Die Industrie befindet sich in einem tiefen Umbruch mit schmerzhaften Strukturanpassungen. Die Dekarbonisierung folgt keiner kohärenten Strategie, sondern wird nach den Regeln des Marktes organisiert. Mit seiner Sanktionspolitik gegenüber Russland hat sich Deutschland von einer günstigen Gasversorgung abgekoppelt und damit einen jahrzehntelangen Wettbewerbsvorteil aufgegeben. Aber auch die wachsende Wettbewerbsstärke Chinas, ein Hinterherhinken bei der Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei der Infrastruktur, die Inflation und der immer stärkere Trend zu sinkenden Reallöhnen – all das bedroht die Zukunft des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems. Und je stärker Deutschland seine ökonomische Stärke verliert, die über Jahrzehnte das Fundament für seine Rolle in der EU und der Welt war, desto stärker muss der geopolitische Bedeutungsverlust militärisch ausgetragen werden, heißt es in einem Diskussionspapier der Friedensinitiative „Nein zum Krieg“.
Nicht zufällig also rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes dazu auf, die Errungenschaften von Freiheit und Demokratie gegen die Feinde mit mehr „Selbstbehauptung“ zu verteidigen: „Wer heute unsere liberale Demokratie bekämpft, muss wissen, dass er es dieses Mal mit einer kämpferischen Demokratie und mit kämpferischen Demokratinnen und Demokraten zu tun hat“. Auch Scholz begründet das Agieren Deutschlands im Ukraine-Krieg nicht zwingend damit, dass man die Ukraine dabei unterstützen müsse, sich gegen den Aggressor Russland zu verteidigen, sondern in erster Linie damit, dass Deutschland zu alter Führungsstärke zurückfinden müsse. In seiner Rede an der Prager Karls-Universität im August 2022 machte er deutlich, dass die EU wegen der gewachsenen Konkurrenz- und Machtverhältnisse zwischen den großen Machtblöcken zu einem geopolitischen Akteur unter der Führung Deutschlands werden müsse.
Schleichende Deindustrialisierung und Massenentlassungen bei VW
Vor diesem Hintergrund sorgt aktuell vor allem die Krise bei VW für großen Druck. Der mit 120.000 Beschäftigten größte deutsche Autokonzern hatte erst kürzlich angekündigt, „mindestens“ drei seiner zehn Werke zu schließen, zehntausende Beschäftigte auf die Straße zu setzen, Produkte, Stückzahlen, Schichten und ganze Montagelinien auch in den noch verbleibenden Standorten abzubauen, die Entgelte um zehn Prozent zu senken, tarifliche Zulagen zu streichen und bis 2026 keine Lohnerhöhungen zu bewilligen. Käme es dazu, wäre das eine Katastrophe, denn der Abbau von Personal und Kapazitäten bei VW hat Auswirkungen auf die gesamte Branche. Hinzu kommt: Die Arbeitsplätze der regionalen Sparkassenangestellten, der Grundschullehrerin, der Kitabeschäftigten, der Pflegekraft oder der Supermarktkassiererin hängen an der Kaufkraft in der Region, in denen VW seine Standorte hat.
Doch die notwendigen industrie- und wirtschaftspolitischen Akzente, die jetzt gesetzt werden müssten, um den industriellen Niedergang zu verhindern, kollidieren mit der außenpolitischen Strategie der Bundesregierung. Unter dem Primat der Zeitenwende muss die politisch gewollte Orientierung auf Elektroantriebe ohne die dafür notwendige Infrastruktur und Subventionen auskommen, denn dem Staat fehlt aufgrund der Kriegspolitik das Geld. Statt die Konfrontationspolitik mit Russland und China fortzusetzen, müsste die Bundesregierung also die Rahmenbedingungen für die energieintensive und auf transnationale Kooperation angewiesene Autoindustrie wiederherstellen. Schon jetzt erleben wir, dass infolge einer Politik, die darauf verzichtet, die Kollision von industriepolitischer und außenpolitischer Schwerpunktsetzung zu vermeiden, der Druck auf die Beschäftigten weiter zunimmt. Friedrich Merz, Carsten Linnemann, Christian Lindner fordern bereits die Agenda 2030 und damit deutliche Einschnitte bei Renten, Bürgergeld oder Kindergrundsicherung. Wie sehr sich dabei die Erzählungen von Sozialabbau und industriellem Niedergang ineinander verschieben, macht ifo-Präsident Clemens Fuest deutlich, wenn er sagt: „Ja, eine Agenda 2030 brauchen wir ganz dringend. Und zwar eine, die sich ganz entschieden damit beschäftigt, unsere Wachstumsschwäche zu überwinden. Dass es sich für große Teile der Bevölkerung wegen unseres Steuer- und Transfersystems nicht lohnt zu arbeiten, ist ein riesiges Problem.“
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit
Gerade vor diesem Hintergrund haben die Arbeitsbedingungen im VW-Konzern nicht nur eine große Bedeutung für die Stabilität der Automoilindustrie. Der Konzern steht auch für ein Modell, das den Beschäftigten deutlich mehr Mitbestimmung einräumt und in der Vergangenheit deutlich mehr Sicherheit bot, als dies in vergleichbaren Unternehmen der Fall war. Dies hat mit der besonderen Historie von VW zu tun. Der Konzern wurde 1937 aus dem beschlagnahmten Gewerkschaftsgeldern von den Nazis gegründet und mit Kriegsbeginn massiv in die Rüstungswirtschaft Hitlerdeutschlands eingebunden. Nach 1945 gelang es, im antifaschistischen Klima der frühen Nachkriegsära eine volle Privatisierung des Konzerns zu verhindern und eine starke Stellung sowohl der Gewerkschaften als auch des Landes Niedersachsen zu etablieren. Das durch die Belegschaft erkämpfte Entlohnungsniveau wurde zum Orientierungspunkt auch für andere Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie. Gleichzeitig boten die spezifischen Mitbestimmungsregeln des VW-Gesetzes den Beschäftigten einen besonderen Schutz. Dieses Modell war nicht nur anderen Arbeitgebern, sondern auch der Europäischen Kommission sowie dem Europäischen Gerichtshof immer wieder ein Dorn im Auge. Die Ankündigung massiver Einschnitte in die Rechte der VW-Beschäftigten – trotz Konzernrücklagen in dreistelliger Milliardenhöhe – kann also durchaus auch als ein Versuch eingeordnet werden, die Sonderstellung von VW im Interesse der gesamten Branche anzugreifen, insbesondere durch die zeitlichen Nähe zur Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie.
Dass die Bundesregierung in einer solchen Situation nicht auf die Stärkung von Tarifbindung und Mitbestimmung setzt, sondern Sanktionen, Meldepflichten und Zumutbarkeitsregeln für Bürgergeldempfänger in einer Weise verschärfte, die selbst den FDP-Fraktionschef Christian Dürr zu der Einschätzung brachte, das Bürgergeld sei „härter als Hartz IV“, sagt einiges über die präferierte Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik in der Krise aus. Denn die beschlossenen Verschärfungen leisten einerseits einen Beitrag dazu, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, um dem Niedriglohnbereich wieder mehr Beschäftigte zuzuführen. Sie disziplinieren aber gleichzeitig auch die von Arbeitsplatzabbau bedrohten Kernbelegschaften und erhöhen den Druck, aus Angst vor Arbeitslosigkeit schlechteren Bedingungen zuzustimmen.
Fazit einer ereignisreichen Woche
Die Entlassungen bei VW, der Bruch in der Ampel und die ungeklärte Finanzierung der Zeitenwende sind nicht nur Teil einer ereignisreichen Woche, sie sind Hinweise auf die tiefe Strukturkrise des Kapitalismus. Dabei verschieben sich die einzelnen Krisenbestandteile ineinander. Vermeintliche Lösungen in einer Krisensphäre führen zur Krisenverschärfung in einer anderen Sphäre. Der Zustand dieser multiplen Krise geht für die breite Bevölkerung mit einem erhöhten militärischen Eskalationspotential einher, ebenso wie mit materiellen Einschnitten und großen sozialen Unwägbarkeiten. Die Angriffe der Arbeitgeber und der Politik auf den Lebensstandard und die Lebensentwürfe der Beschäftigten gehen dabei Hand in Hand. Sie abzuwehren gelingt nur, wenn die Gewerkschaften und die politische Linke die Krisenmechanismen in ihrer Gesamtheit in den Blick nehmen und auf den Ebenen bekämpfen, auf denen sie sich äußern.