"Wenn die Taliban das sehen, werde ich erschossen" - 23-Jähriger berichtet aus Kabul

DIE LINKE. Gelsenkirchen hat ein Ehepaar getroffen, das in Kontakt mit einer afghanischen Familie in Kabul steht. In diesem Zusammenhang konnten wir einem Videotelefonat beiwohnen, in dem Amir, ein 23-jähriger Afghane, der zeitweise in Deutschland lebte, über die dramatischen Verhältnisse vor Ort seit der Machtergreifung durch die Taliban berichtete.

Amir* weint. Der junge afghanische Mann hat Todesangst. Zwei Tage zuvor waren die Taliban in sein Haus in einem Vorort von Kabul gekommen. Sie konfiszierten das Auto, das Amirs Vater gerade erst für die Familie gekauft hatte. Auch seinen Nachbarn nahmen die Taliban die Autos weg. Seitdem die Taliban Kabul eingenommen haben, bestimmen Ängste den Alltag von Amir.

„Wenn die Taliban das sehen werde ich erschossen“, sagt er und deutet auf seine Brust. Dort hat er ein arabisches Tattoo, das übersetzt „Ich liebe meine Mutter“ bedeutet. Der 23-jährige sieht abgemagert aus. Er trägt einen weißen Turban und ein traditionelles Gewand, aus Furcht die Taliban könnten ihn wegen seines westlichen Kleidungsstils belangen, wie er sagt. 

„Das hat er sonst nie gemacht. Er trug mal T-Shirts mit Print und auf Fotos sah man ihn immer lächeln. So wie wir ihn jetzt sehen, stimmt uns einfach nur traurig. Wir machen uns große Sorgen um Amir“, sagt Anke, die im Jahr 2019 Amir zusammen mit ihrem Ehepartner Ralf kurzfristig bei sich aufgenommen hat. 

 

Eine Geschichte der Flucht

Amir kam im Jahr 2015 als minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter nach Deutschland. Damals war die Balkan-Route für Geflüchtete noch offen und das Motto „Wir schaffen das“ die Losung der Flüchtlingspolitik. Der Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan hatte mit der ISAF-Mission gerade ihr Ende gefunden und mit der neuen NATO-Mission Resolute Support versuchte sich der Westen im Aufbau einer afghanischen Armee und staatlicher Strukturen.

„Amir berichtete uns damals, dass die Lage vor Ort nie sicher gewesen ist. Terroranschläge gehörten zum Alltag. Familienfeiern konnten nur mit Sicherheitspersonal stattfinden“, sagt Anke rückblickend.

Anfang Herbst 2019 kam dann der Schock für den damals 21-jährigen Amir. Das Jugendamt erhob Anzeige gegen ihn, worauf er in Abschiebehaft kam. 

„Ich habe Amir damals in der Abschiebehaft besucht. Mit seiner deutschen Freundin erwartete er ein Kind. Gerade hatten sie sich auf einen Namen geeinigt. Er wirkte noch zuversichtlich, dass alles zum Guten kommen würde“, erinnert sich Jonas Selter, stellvertretender Sprecher der LINKEN Gelsenkirchen. Das Ehepaar setzte sich für eine Verhinderung der Abschiebung ein. Sie schalteten sogar einen Anwalt ein. Doch am Ende musste Amir Deutschland verlassen, trotz der damals schon bekannten Sicherheitsprobleme vor Ort.

 

Schwester besonders gefährdet

Zwei Jahre und eine gescheiterte NATO-Mission später sitzt Amir am Ende seiner Kräfte im Gemeinschaftsraum seines Elternhauses. 

Die größten Sorgen mache er sich um seine Schwester, sagt er. Sie ist 18 Jahre alt und unverheiratet. „Die Taliban könnten kommen und sie mitnehmen“, fürchtet er. Amirs Schwester träumte davon zu studieren, vielleicht sogar in Europa. Dieser Traum ist mit der Machtergreifung der Taliban vorbei. „Wir müssen sie verstecken. Wir verstecken uns alle. Wir können nicht nach draußen.“

Während Amir von seiner Situation berichtetet, bricht er immer wieder in Tränen aus. 

„Er, der schon einmal eine Flucht geschafft hat, traut sich nicht mehr aus dem Haus. Unsere Hoffnung war, weil er deutschsprachig ist, dass er es zum Flughafen von Kabul schafft“, berichtet Gastvater Ralf. „Doch Amir erklärte uns, die Taliban würden überall patrouillieren und könnten auf die Menschen schießen.“ Ohne Auto und wegen der desaströsen Sicherheitslage am Flughafen ist für Amir eine Flucht nahezu ausgeschlossen.

Hinzu kommt der selbst auferlegte Hausarrest: „Für mich ist das besonders schlimm. Ich muss immer was machen“, beklagt Amir.

„Amir kann nicht still sitzen. Als er bei uns war, ist er durch das Haus gewirbelt. Er hat Pfeffer im Hintern“, bestätigt Gastmutter Anke. 

Sein Vater sei das einzige Familienmitglied, das noch das Haus verlasse, so Amir. Die Familie hat die Hoffnung, dass die Taliban einem alten Mann nichts antun. 

Bei einem WhatsApp-Telefonat am Donnertag klopft es plötzlich bei Amir an der Tür. „Besuch ist da. Ich muss zur Tür“, sagt Amir und die Verbindung bricht ab. 

„Wir haben uns große Sorgen gemacht. Wir dachten, die Taliban hätten ihn geholt. Es hätten seine letzten Worte sein können“, sagt Gastmutter Anke. 

Am Samstag dann die erlösende Nachricht. Amir lebt. Der ganze Stress der letzten Tage hat seinen körperlichen Tribut gefordert. Er war mit starken Kopfschmerzen ans Bett gefesselt. 

„Unsere Bundesregierung hat total versagt. Amir ist nicht der Einzige, der von uns im Stich gelassen wurde durch einen überstürzten Rückzug“, bekundet Gastvater Ralf und ergänzt: „Wir müssen den Menschen vor Ort helfen und ihnen nun eine Flucht ermöglichen.“

 

 

*Um seine Identität zu schützen, haben wir den Namen geändert.