Die Kinder­grundsicherung ist keine Kinder­grundsicherung

Die Kinder­grundsicherung ist keine Kinder­grundsicherung - Sie ist eine Mogelpackung. Um ihrem Namen gerecht zu werden, müsste eine Kindergrundsicherung die Kinderarmut abschaffen. Das »größte sozialpolitische Projekt« der Ampel kommt nicht einmal in die Nähe davon.

Müsste man sich ein Regierungsprojekt aussuchen, das die katastrophale Politik der Ampel-Koalition auf den Punkt bringt, so würde man vermutlich nichts Passenderes finden als die Kindergrundsicherung – oder besser gesagt das, was die Regierung als Kindergrundsicherung bezeichnet. Nachdem es in den vergangenen Wochen um dieses Thema vergleichsweise still war, gab es in den letzten Tagen eine neue Entwicklung.

Finanzminister Lindner will, so heißt es, den Steuerfreibetrag anheben, das Kindergeld aber nicht. Er begründet dies mit der hohen Kindergelderhöhung zum Vorjahr – als sei diese der Großmut des Ministers und nicht etwa den enormen Inflationsraten zu verdanken – und der damals nicht in gleichem Maße erfolgten Erhöhung des Steuerfreibetrages. Das Vorgehen sei auch mit dem Kanzler abgesprochen. 

Aktuell erhalten Familien pro Kind ein monatliches Kindergeld von 250 Euro. Für die meisten ändert sich daran auch nach Abgabe der Steuererklärung nichts. Für Besserverdienende hingegen lohnt sich der Steuerfreibetrag pro Kind mehr: Ab einem Einkommen von knapp 90.000 Euro bei Paaren ist der Freibetrag höher als das Kindergeld. Die maximale Entlastungswirkung für die Steuerlast der Eltern ergibt sich ab rund 150.000 Euro Jahreseinkommen: Statt 3.000 Euro Kindergeld erhalten sie eine Steuererleichterung von 3.760 Euro pro Kind und Jahr. Hinzu kommen weitere Steuerabzüge für Betreuungs- und Ausbildungsbedarfe. 

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Das Bündnis Kindergrundsicherung hat im vorletzten Jahr einmal ausgerechnet, auf welche Gesamtsumme sich diese Besserbehandlung von Kindern reicherer Familien bis zum achtzehnten Lebensjahr summieren kann: Sie erhalten bis zu 25.000 Euro mehr als Kinder aus der so oft auch von der FDP beschworenen hart arbeitenden Mitte der Gesellschaft.

Zum Jahr 2023 wurde das Kindergeld in der Tat stärker angehoben als der Steuerfreibetrag. Wenn Lindner sich auf eine angebliche Absprache mit Kanzler Scholz beruft, dass nun der Freibetrag einseitig nachziehen dürfe, so lohnt sich ein Blick in den Koalitionsvertrag. Darin ist nämlich ganz klar das Ziel formuliert, das Kindergeld von aktuell 250 Euro an den maximalen Steuerfreibetrag von 354 Euro anzugleichen, um diese Ungerechtigkeit bei unterschiedlichen Einkommen perspektivisch zu beseitigen.

Das größte sozialpolitische Projekt der Ampel

Die Kindergrundsicherung soll verschiedene Leistungen für Kinder und Jugendliche bündeln und damit ihr Existenzminimum sichern. In dem nach langem Gezerre vorgelegten Konzept der Ampel setzt sich die geplante Kindergrundsicherung aus einem Garantiebetrag und einem einkommensabhängigen Zusatzbetrag zusammen. Das ist grundsätzlich ein schlüssiger Ansatz, der auch Teil der vor Jahren vorgelegten Konzepte der Linkspartei oder des Bündnisses Kindergrundsicherung ist.

Der zentrale Unterschied ist aber folgender: Nach Vorstellung der Ampel soll der Garantiebetrag lediglich die Höhe des aktuellen Kindergeldes abbilden. Das bedeutet, dass die Differenz zwischen Kinderfreibetrag und Garantiebetrag bestehen bleibt und Kinder in reichen Familien gegenüber Kindern in Normalverdiener-Familien auch weiterhin bessergestellt werden. Beim Konzept der Linken hingegen sollte der Garantiebetrag der Höhe des maximalen Steuerfreibetrages entsprechen, womit diese zentrale Ungleichbehandlung von Kindern beendet würde. Diese Forderung erhoben in den vergangenen Tagen auch mehrere Sozialverbände für das Kindergeld und perspektivisch für die Kindergrundsicherung. 

»Da der Vorschlag von Paus, 12 Milliarden für die Kindergrundsicherung auszugeben, jedweder fachlichen Grundlage entbehrte, konnte Lindner seinerseits völlig ohne Begründung entgegenhalten, 2–3 Milliarden würden ausreichen.«

Hinzu kommt: Der Zusatzbetrag der Ampel basiert auf dem Kinderzuschlag, es werden also wirklich einfach bestehende Leistungen irgendwie aufeinander gepackt. Eine Leistungserhöhung über einen Inflationsausgleich hinaus wird es nicht geben – und damit auch keine nachhaltige Reduzierung von Kinderarmut. 

Eine echte Kindergrundsicherung müsste sich am Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren: Erst, wenn man definiert und berechnet, was Kinder und Jugendliche benötigen, um nicht in Armut aufzuwachsen, kann man daraus seriös ableiten, was die Kindergrundsicherung in etwa kosten würde. In krassem Kontrast dazu steht dieses Vorgehen der Regierung – in Sinnhaftigkeit und Außendarstellung ein perfektes Abbild der gesamten Performance dieser selbsternannten »Fortschrittskoalition«.

Wenn zwei sich streiten, gewinnt der Finanzminister

Als ab März 2022 die interministeriellen Arbeitsgruppen tagten und verschiedene Konzepte und Ideen diskutierten, lief noch alles ruhig und sachlich ab. Als die Debatte jedoch die Arbeitsebene verließ und Familienministerin Paus im Dezember 2022 in ihrer Weihnachtsbotschaft verkündete, die Kindergrundsicherung würde kommen, begann das Chaos. 

Ohne konkretes Konzept zofften sich Paus und Lindner um Zahlen und um die Frage, wie viel die Kindergrundsicherung kosten müsse oder dürfe. Paus wünschte sich 12 Milliarden – konnte diese Zahl jedoch nicht mit Fakten unterfüttern. Wir fragten damals beim Familienministerium an, wie der Bedarf von 12 Milliarden berechnet worden sei, erhielten aber nur die obskure Antwort, dass man diese Information nicht zur Verfügung stellen könne – das würde die Verhandlungen in der Regierung gefährden. Dass belegbare Zahlen und Konzepte in einer Verhandlung von Nachteil sein könnten, wirkt doch etwas unlogisch, überrascht bei dieser Koalition aber auch niemanden mehr. 

Da der Vorschlag von Paus, 12 Milliarden für die Kindergrundsicherung auszugeben, jedweder fachlichen Grundlage entbehrte, konnte Lindner seinerseits völlig ohne Begründung entgegenhalten, 2–3 Milliarden würden ausreichen. Man einigte sich dann in etwa in der Mitte – also in der Mitte dessen, was Lindner vorschwebte: Für die Kindergrundsicherung sollen nun im Jahr 2025 2,4 Milliarden Euro ausgegeben werden. 

Zum Vergleich: Das Bündnis Kindergrundsicherung, ein Zusammenschluss zahlreicher Sozialverbände, errechnete für sein Konzept Kosten von über 20 Milliarden, das Konzept der Linken rechnet sogar mit einem Bedarf von rund 25 Milliarden Euro. Letzteres umfasst einen einheitlichen Garantiebetrag für alle, einen Zusatzbetrag, der sich am Alter der Kinder und dem Einkommen der Eltern orientiert und – wenn nötig – zusätzliche Wohnkosten und Sonderbedarfe, wie Klassenfahrten oder Musikinstrumente. Hinzu kommen 3 Milliarden für offene Kinder- und Jugendarbeit – eine Verdopplung der bisherigen Mittel in diesem Bereich. 

Stellt man dem die kürzlich vom DIW errechneten Folgekosten der Kinderarmut von jährlich über 100 Milliarden Euro entgegen, so sieht man doch recht deutlich, wer hier volkswirtschaftlich im Dunklen tappt. 

Ein einziger Etikettenschwindel

Eine Kindergrundsicherung – so steckt es schließlich im Namen – soll eigentlich die Existenzsicherung von Kindern gewährleisten. Doch genau dieses Kernziel verfehlt der Gesetzesentwurf der Regierung. Ebenfalls versprochen hatte sie eine Vereinfachung – doch auch hier liefert die Ampel nicht, was sie angekündigt hat. 

Besonders für Familien, die Bürgergeld beziehen, wird es mit der Kindergrundsicherung komplizierter: Sie müssen zum neu geschaffenen Familienservice und erhalten dort den Garantiebetrag sowie den maximalen Kinderzusatzbetrag. Da in diesem jedoch nur eine Wohnkostenpauschale enthalten ist, die maximal 125 Euro abdeckt, werden viele Familien zusätzlich wieder zum Jobcenter müssen, um den Mehrbedarf durch die realen Wohnkosten abzudecken. 

Das ist nicht nur nicht einfacher als vorher – es ist auch zu befürchten, dass dieses Vorgehen zu wenig kommuniziert wird und dadurch zahlreiche Familien am Ende mit weniger Geld dastehen, als es aktuell der Fall ist. Schon jetzt schöpfen bei weitem nicht alle Familien die ihnen zustehenden Leistungen aus, insbesondere den Kinderzuschlag. Es hat sich bereits früh abgezeichnet, dass die Kindergrundsicherung nicht mehr werden wird als eine Verwaltungsreform – inzwischen ist klar: Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine schlechte Verwaltungsreform.

»Das Mindeste, was SPD und Grüne jetzt noch tun könnten, wäre, das Wort ›Kindergrundsicherung‹ nicht mehr in den Mund zu nehmen.«

In der Öffentlichkeit stellt sich die Debatte um die Kindergrundsicherung häufig als ein Streit zwischen Paus und Lindner dar. Man könnte meinen, Grüne und FDP würden alleine regieren. Doch auch die SPD forderte im Wahlkampf eine Kindergrundsicherung. Während Kanzler Scholz, der ja zumindest auf dem Papier die Richtlinienkompetenz innehat, Lindners Retourkutschen zu jeder öffentlichen Äußerung von Paus unbeantwortet ließ, mischte er sich kurz vor der Sommerpause mit einem bemerkenswerten Brief in die Debatte ein: Er fordere die Familienministerin auf, zeitnah verschiedene Szenarien konkret auszuarbeiten. 

Dies ließ sich nur als Kritik an der bisherigen Performance von Lisa Paus verstehen – auch wenn sie selbst das ganz anders wahrnahm und den Kanzler eng an ihrer Seite wähnte. Dass ihr das nur leider so gar nichts bringt, zeigt sich mit jedem vergehenden Tag mehr. Grundsätzlich hört man von der SPD nahezu nichts zum Thema Kindergrundsicherung. Dass sie nicht sehr viele Gedanken an dieses Projekt verschwendet, bewies kürzlich ihr Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich. Er forderte eine grundlegende Reform von Kinderfreibetrag und Kindergeld – als wäre nicht eine Kindergrundsicherung in Arbeit, die unter anderem genau das leisten sollte. Dass er diesen Zusammenhang nicht selbst herstellt, steht sinnbildlich für die fehlende Leidenschaft, die die SPD bei diesem Thema gezeigt hat. 

Ob das »größte sozialpolitische Projekt« der »Fortschrittskoalition« nun wirklich kommt, bleibt unklar. Was auch immer die Ampel eventuell fabrizieren wird – mit einer echten Kindergrundsicherung hat es rein gar nichts zu tun. Das Mindeste, was SPD und Grüne jetzt noch tun könnten, wäre, das Wort »Kindergrundsicherung« nicht mehr in den Mund zu nehmen. Sie sollten aufhören, den Menschen vorzuspielen, ihre verunglückte Verwaltungsreform hätte mehr als marginalen Mehrwert für eine geringe Anzahl von Familien. 

Ja, wenn Einkommen, Anzahl und Alter der Kinder und die aktuelle Mondphase zusammenpassen, dann gibt es vielleicht ein paar Euro mehr für einige Wenige. An der Tatsache, dass mehr als ein Fünftel der Kinder in Deutschland in Armut aufwachsen, wird das aber kaum etwas ändern. Und daran trägt nicht Christian Lindner alleine die Schuld – es ist ein kollektives Versagen aller Beteiligten.