Mit Angst zur Kriegsmentalität

Führende Militärs und Politiker der NATO-Staaten warnen vor der Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf NATO-Territorium. Berlin erhofft sich von dem Bedrohungsdiskurs Zustimmung zu weiterer Militarisierung.

m medialen Vorlauf des NATO-Großmanövers Steadfast Defender häufen sich im Westen die Warnungen vor einem russischen Angriff innerhalb der nächsten 20 oder gar 5 Jahre. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius erklärt, er halte eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs für möglich, auch wenn er zurzeit nicht mit einem Angriff durch Russland rechne. Ein führender NATO-Admiral schließt eine unkontrollierte Eskalation nicht aus. Der aktuelle Übungsaufmarsch von 90.000 Soldaten für Steadfast Defender in größtmöglicher Nähe zur russischen Westgrenze ist das vorläufige Ergebnis von fast einem Jahrzehnt Rüstung für den Großmachtkrieg in Europa. Die heraufbeschworene Bedrohung im Osten wird nun von Pistorius wie von der NATO genutzt, um die Bevölkerung aufzufordern, sich als „Heimatfront“ in die Kriegsvorbereitungen einzureihen. Die Menschen müssten sich bewusst machen, dass in einem Krieg nicht nur die Armee, sondern die gesamte Gesellschaft kämpfen müsse, erklärt der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer. Ein Mentalitätswechsel in der Bevölkerung gilt auch deutschen Experten als Voraussetzung für eine erfolgreiche Fortsetzung der Militarisierung der Bundesrepublik.
Mit Batterieradios gegen Moskau

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius spricht mit Blick auf Russland von einer „Dringlichkeit der Bedrohungslage“. Die NATO müsse sich auf einen Angriff Moskaus vorbereiten, erklärte er Ende vergangener Woche – in einem Zeitraum von „fünf bis acht Jahren“. Vor diesem Hintergrund gelte es, Deutschlands militärische Fähigkeiten „rasch“ zu „stärken“. Zur Vorbereitung auf einen unmittelbaren Krieg mit der Atommacht Russland fordert Pistorius unter anderem die Reaktivierung der Wehrpflicht, die Öffnung der Bundeswehr für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, eine Stärkung der deutschen Rüstungsindustrie und eine Abkehr von der Schuldenbremse, um Geld für die Rüstung freizumachen.[1] Erst kürzlich hatte der oberste Befehlshaber der schwedischen Streitkräfte, General Micael Bydén, seine Landsleute aufgefordert, sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten. Bei einer Pressekonferenz darauf angesprochen, ob man Bydéns Äußerungen als alarmistisch einstufen müsse, entgegnete unlängst der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, es sei „großartig“, dass die Schweden jetzt aufgrund des Aufrufs seines Kollegen batteriebetriebene, also auch nach Angriffen auf das Stromnetz funktionsfähige Radios kauften. Die Menschen in den NATO-Staaten müssten „realisieren“, dass es „keine Selbstverständlichkeit“ sei, dass sie in Frieden lebten, äußerte Bauer. Auch die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation zu einem heißen Krieg mit Russland scheint für den führenden NATO-Militär innerhalb der nächsten 20 Jahre denkbar; „nicht alles“ sei „planbar“.[2]
An vorderster Front

Sollte der Ukraine-Krieg von einem Stellvertreterkrieg zu einer direkten militärischen Konfrontation der NATO mit Russland eskalieren, dann sehen deutsche Experten die Bundesrepublik an vorderster Front. Das geht unter anderem aus einer aktuellen Stellungnahme aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hervor. Berlin habe in Sachen Aufrüstung zwar noch eine „lange To-Do-Liste“ abzuarbeiten, bevor es in der Lage sei, „angemessen“ auf ein Zusammenziehen der russischen Kräfte an der litauischen Grenze oder gar auf „einen tatsächlichen Angriff auf NATO-Territorium“ zu reagieren, heißt es in dem Text. Dennoch werde Deutschland bei einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland eine „zentrale Rolle spielen müssen“. Deutsche Soldaten sind teilweise bereits seit Jahren in unterschiedlichen Rahmen in größtmöglicher Nähe zur russischen Westgrenze stationiert. Mit dem Aufbau eines deutschen Truppenstützpunktes in Litauen zementiert Berlin seine Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke. Im Fall eines russischen Angriffs wären die deutschen Soldaten in Litauen „bereit und autorisiert, sich zu verteidigen“, urteilt die DGAP. Demnach stünde Deutschland im Ernstfall bereits im Krieg mit Russland, noch bevor die ersten Eingreiftruppen der NATO in Osteuropa einträfen.[3]
Im Osten nichts Neues

Trotz der alarmistischen Äußerungen schätzt der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Bauer, die Gefahrenlage nicht höher ein als noch vor einem Jahr. Die Tatsache, dass die NATO-Staaten für einen russischen Angriff „bereit“ sein müssten, sei „an und für sich keine Neuigkeit“, konstatierte Bauer in der vergangenen Woche. Die NATO habe bereits viel getan, um sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, äußerte er mit Verweis auf die auf dem jüngsten NATO-Gipfel 2023 in Vilnius beschlossenen regionalen Verteidigungspläne.[4] Das zurzeit anlaufende Großmanöver Steadfast Defender mache sichtbar, wie weit die NATO ihre militärische Stellung gegenüber Russland bereits ausgebaut habe. Bis Mai wird das Militärbündnis nach eigenen Angaben mit 90.000 Soldaten an der russischen Westgrenze aufmarschieren. Dabei sind es keineswegs die Beschlüsse von Vilnius allein, die den bisher umfangreichsten Truppenaufmarsch der NATO an ihrer Ostflanke möglich gemacht haben. Der Startschuss für die Vorbereitungen auf einen Krieg mit Russland fiel bereits vor knapp zehn Jahren auf dem Gipfel in Wales.
Seit 2014

Schon damals, im September 2014, hatte die NATO Russland zu einer wesentlichen Bedrohung erklärt und den sogenannten Readiness Action Plan beschlossen. Seitdem restrukturiert und rüstet sie sich für die Großmachtkonfrontation. Sie hat unter anderem ihre Reaktionszeiten verringert, ihre Nachschubtruppen deutlich vergrößert, in zahlreichen Manövern die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen nationalen Armeen verbessert und sich mit den Marschrouten nach und durch Europa vertraut gemacht, Kommandostrukturen umgebaut und ihre militärische Präsenz in Osteuropa ausgebaut. Unter dem Schlagwort der „Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung“ vollzieht auch die Bundeswehr diesen Um- und Hochrüstungsprozess bereits seit Jahren. Der „Kampf gegen einen mindestens ebenbürtigen Gegner“ im „euroatlantischen Raum“ sei inzwischen „strukturbestimmender“ „Kernauftrag“ und „klarer Schwerpunkt“ der „Kräftebindung“ der Bundeswehr, heißt es im aktuellen militärpolitischen Grundsatzpapier der Bundesrepublik, den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 2023.[5]
Die Heimatfront wachrütteln

In den Streitkräften der NATO-Staaten sei in Sachen Kriegsbereitschaft bereits viel passiert, urteilt Admiral Bauer. Was allerdings noch fehle, sei das gesellschaftliche Bewusstsein, dass sich „mehr als das Militär” vorbereiten müsse. In einen „Konflikt oder Krieg” mit Russland werde „die Gesellschaft als Ganzes” involviert sein. Bevölkerung und Industrie müssten bereitstehen, Nachschub an Waffen, Munition und Menschen zu liefern. Es sei an der Zeit, dass die Gesellschaften der NATO-Staaten sich klar machten, dass „Krieg und Kampf“ nicht allein Sache einer professionellen Armee seien. Die NATO müsse sich vielmehr gesamtgesellschaftlich auf einen Krieg einstimmen.[6] Bundesverteidigungsminister Pistorius äußert sich ähnlich. Er rechne „aktuell“ nicht mit einem russischen Angriff, erklärte er Ende vergangener Woche. Mit seinen Warnungen wolle er vor allem „unsere Gesellschaft … wachrütteln“.[7] Experten der DGAP waren bereits im vergangenen Jahr zu dem Schluss gekommen, „Voraussetzung“ für die geplante zügige Steigerung des militärischen Potenzials Deutschlands sei „ein Mentalitätswechsel in der Bevölkerung“.[8]