Reiche machen Deutschland arm

Von Annette Jensen

STEUERGERECHTIGKEIT — Der Staat weiß nicht, wie viel die Reichsten besitzen. Mindestens 1.400 Milliarden Euro nennen 200 Super­reiche ihr Eigen – Eigentum, das sie laut Grundgesetz verpflichtet. Ein wichtiges Argument, die Vermögenssteuer wieder einzuführen und die Erbschaftssteuer grundlegend zu reformieren

Die reichste Familie in Deutschland ­konnte sich jahrelang verstecken. Seit die Vermögenssteuer 1997 abgeschafft ­wurde, weiß der Staat nicht mehr, was die Begüterten so alles anhäufen. Und weil es den Leuten hinter dem Pharmakonzern Böhringer-Ingelheim nicht ­passte, dass alle Welt von ihren 50 bis 100 Milliarden Euro Kenntnis erhält, unter­sagten sie dem Manager Magazin, sie in der jährlich veröffentlichten „Reichstenliste“ aufzuführen. Mindestens zehn ­weiteren Milliardären ist es ebenso gelungen, unterm Radar der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben.

Damit haben das „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ und die Hans Böckler Stiftung jetzt Schluss gemacht. Ihre Recherchen belegen, dass die 200 Superreichen in Deutschland mindestens 1.400 Milliarden Euro ihr Eigen nennen. Damit besitzen sie 500 Milliarden mehr, als das Manager Magazin im November ausgerechnet ­hatte. Diese zusätzlich aufgespürte Summe übersteigt deutlich den gesamten Bundeshaushalt, sie würde ausreichen, das Bürgergeld für 5,5 Millionen Menschen fast 20 Jahre lang zu finanzieren.

Wie die Reichen reich werden

„Böhringer hat sich bisher nicht bei uns gemeldet; offenbar haben sie sich damit abgefunden, dass das nun öffentlich ist“, sagt Christoph Trautvetter, einer der ­Autoren der Studie. Genau wie bei Familie Merck sind Arzneimittel die Basis ihres Riesenvermögens. Schon länger ist bekannt, dass auch die Aldi-Erben und der Lidl-Gründer Dieter Schwarz zur Spitzengruppe zählen. Ihr Erfolgsrezept: Landwirte und Lieferanten drangsalieren, um mit billigen Preisen andere Lebensmittel-Läden vom Markt zu drängen. Autokonzerne sind ebenfalls sehr einträglich: BMW und VW haben Susanne Klatten, die ­Familie Quandt und die Porsche-Nachkommen zu Multimilliardären gemacht.

Um die Spitze des Geldbergs zu erforschen, durchstöberten Trautvetter und sein kleines Team keine Geheimarchive, sondern lasen Geschäftsberichte und kombinierten verschiedene Quellen aus dem Internet. Eine Fleißarbeit – kein ­Hexenwerk. Doch während Armut in Deutschland bestens untersucht ist, gibt es beim Reichtum große Wissenslücken. Kein Lehrstuhl oder staatliches Forschungsinstitut beschäftigt sich systematisch mit dem Thema.

Das schadet der Demokratie und dem Gemeinwohl. „Die Politik agiert im Blindflug. Doch es ist nötig, dass wir offen über Geld und seine Verteilung reden“, sagt Trautvetter. Schließlich steht im Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet. Sein ­Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Daraus folgt, dass Leute mit vielen Immobilien, Wertpapieren und dicken Bankkonten nicht für sich in Anspruch nehmen dürfen, dass ihr Reichtum allein sie etwas angeht. „Die Politik muss dafür sorgen, dass Privat­vermögen erfasst wird, damit es politisch diskutierbar wird“, so Trautvetter.

Tatsächlich ist die „Stiftung für Familien­unternehmen“ bisher die einzige Insti­tution, die Analysen zu Superreichtum ­finanziert. Anders als der Name suggeriert, vertritt sie nicht die breite Masse der drei Millionen Familienbetriebe in Deutschland, sondern vor allem Multimillionäre und Milliardäre. Viele von denen haben mit den Unternehmen, die die Grundlage für ihr Vermögen geschaffen haben, inzwischen gar nichts mehr zu tun. Doch die Mär, dass eine Vermögenssteuer dem Wirtschaftsstandort Deutschland schade und viele Arbeitsplätze gefährdet, hält sich hartnäckig – auch weil die Stiftung für Familienunternehmen sie ständig verbreitet.

Lobbyisten spielen bei alledem eine ­zentrale Rolle. Klar: Wer viel investieren kann, um die Politik zu beeinflussen, hat bessere Karten. Gerade hat die Bürgerbewegung Finanzwende untersucht, über welches Budget die Interessenvertretungen verfügen, die im Lobbyregister des Deutschen Bundestags registriert sind. Mehr als 150 Millionen Euro im Jahr lassen sich Wirtschaftsverbände und ­Firmen diesen Posten kosten. Allein die Stiftung Familienunternehmen stellt 1,8 Millionen Euro bereit, um Einfluss auf Gesetze und politische Entscheidungen zu nehmen. Dem haben alle zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen lediglich 19 Millionen Euro entgegenzusetzen.

Viel Geld investieren die Superreichen in Grund und Boden. Eine Aldi-Erbin hat beispielsweise riesige Flächen Ackerland gekauft, auch Mietshäuser sind beliebte Anlageobjekte. Weil Boden begrenzt ist, wird er immer teurer – mit fatalen Kosten für diejenigen, die darauf wirtschaften oder wohnen. Die Pacht- und Kaufpreise für landwirtschaftliche Betriebe sind in die Höhe geschnellt, Mieten in Groß­städten explodiert. Weil es zu wenig ­Sozialwohnungen gibt, ist der Staat gezwungen, für Bürgergeld- und Wohngeldempfangende völlig überhöhte Quadratmeterpreise zu übernehmen – zur Freude der Vermieter, die nach einer Studie vom Bündnis Soziales Wohnen auf diese Weise 700 Millionen Euro aus der Staatskasse abgreifen.

Auch an anderen Stellen sind die Bedingungen für Superreiche supergünstig. So gelten die Erben von mehr als 300 Wohnungen automatisch als Wohnungs­unternehmen – und müssen deshalb bei geschickter Handhabung keinerlei Steuern dafür zahlen – anders als Leute, die ein oder drei Wohnungen erben. Obwohl der Bundesfinanzhof diese Regelung vor einigen Jahren gerügt hatte, gilt sie weiter. Auch auf drei Urteile des Bundesver­­fassungsgerichts gegen andere Ungerechtigkeiten bei der Erbschaftssteuer reagierte die Politik so gut wie nicht. Nach Berechnung von Finanzwende gehen dem Staat allein dadurch jährlich 5 bis 10 Milliarden Euro Steuereinnahmen ­flöten.

Die ärmere Hälfte der Bevölkerung

So erstaunt es nicht, dass der Staat knapsen muss und die Schere zwischen arm und reich auseinandergeht. „Die Vermögensungleichheit in Deutschland (liegt) auch im internationalen Vergleich auf ­einem hohen Niveau“, stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bereits 2020 fest. Den Daten zufolge besitzt die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland zusammengerechnet lediglich 2,8 Prozent des Privatreichtums.

Wenn diese Menschen überhaupt etwas haben. 5,6 Millionen sind dauerhaft im Minus, wie aus dem Schuldneratlas 2023 hervorgeht. Dass sie alle möglichen Konsumgüter auf Pump gekauft haben, sei ein Vorurteil, betont Christoph Zer­husen von der Verbraucherzentrale NRW. „Viele Betroffene arbeiten im Niedriglohnsektor und müssen einen großen Teil ihres Einkommens für die Miete ausgeben“, benennt der Experte eine zentrale Ursache für Überschuldung. Kommt dann eine Lebenskrise hinzu – Jobverlust, Scheidung oder Krankheit – stapeln sich die unbezahlten Rechnungen.

„Die Politik agiert im Blindflug. Doch es ist nötig, dass wir offen über Geld und seine Verteilung reden.“ Christoph Trautvetter, Netzwerk Steuergerechtigkeit

Zerhusen empfiehlt, früh eine der kosten­losen Schuldner-Beratungsstellen aufzusuchen, die Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Verbraucherzentralen anbieten. Dort gibt es Unterstützung, um einen Schuldenbereinigungsplan zu entwickeln und sich möglichst außergerichtlich mit den Gläubigern zu einigen.

Gerade für diejenigen, die nichts auf der hohen Kante haben und wenig verdienen, sieht Zerhusen aktuell große Gefahren: steigende Mieten, Energiepreise und Lebenshaltungskosten – dazu die ­Rezession. „Das Problem der Überschuldung wird sicher zunehmen und auch Nahrungsarmut wird 2024 ein Thema“, so seine düstere Prognose. Ein Recht auf kostenlose Beratung für alle Betroffenen und entsprechend mehr Kapazitäten ­stehen ebenso auf seiner Vorschlagsliste wie eine geringere Mehrwertsteuer für gesunde Lebensmittel.

Letztlich aber muss es um viel größere Veränderungen gehen. Die Vermögenssteuer muss wieder eingeführt, die Erbschaftssteuer grundlegend reformiert werden. Der Staat benötigt Geld für gute Schulen, Busse und Bahnen, digitale Infrastrukturen und eine zukunftsfähige Energieversorgung. Das Geld ist da – doch es liegt bei wenigen Superreichen. Das ändern zu wollen, hat nichts mit Neid zu tun, sondern mit himmelschreienden ­Ungerechtigkeiten.